Lebensgeschichte
Wenn zu viel in zu kurzer Zeit verlangt wird.
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Ich wollte in diesem Blog eigentlich nichts über Gesundheitsthemen schreiben. Ich mach es jetzt aber trotzdem, da mich ein Thema, was mich jetzt seit einem Monat in mir rumschleppe endlich loswerden muss. Das Thema ist mir so wichtig, dass ich es sowohl in Deutsch als auch in Englisch schreibe.
Ich bin eine Transfrau noch in der “Umstellung”. Ich lebe seit Ende letzten Jahres als Frau und nehme seit ein paar Monaten Hormone. Ich versuche jetzt seit August, meine Bartepilation bezahlt zu bekommen, da die noch vorhandenen Barthaare sowie Körperbehaarung an den Brüsten jeden Tag aufs neue psychisch zu schaffen macht. Die Krankenkasse muss diese Kosten übernehmen, kann aber eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversichung (MDK) verlangen.
Und genau da liegt der Haken. Der MDK-Arzt war mit dem Schreiben von meiner Psychotherapeutin alleine nicht zufrieden und hat verschiedene Ärztegutachten angefordert, sowie eine eigene, ausführliche Lebensgeschichte von mir.
Mich dagegen zu weigern bringt nichts. Ich habe kein Geld, um die Epilationsbehandlung selber zu bezahlen. Ich muss das Thema möglichst schnell hinter mir haben, damit es mir wieder besser geht.
Ich habe jetzt 4 Wochen damit verbracht, diese zu schreiben. Und ich bin am Ende. Ja, ich habe sie fertig. 13 Seiten mit über 6100 Wörter. Aber ich bin bin auch fertig.
Über Erlebnisse zu reden kann gut tun. Therapiestunden habe ich meistens einmal in der Woche. Dort kann immer mal etwas, aber dann in der richtigen Dosierung hochkommen. Und das tut gut.
Über Erlebnisse zu schreiben, und das auch noch strukturiert, ist was anderes. Zum einen habe ich den inneren Zeitdruck. Zum anderen habe ich keine ausgebildete Therapeutin, die im richtigen Moment die richtigen Worte findet.
Ich möchte mal einen Satz raussuchen, an dem ich eine halbe Stunde gesessen habe, um ihn in meinem Essay diplomatisch zu verpacken:
“Die Lebensgeschichte zu schreiben ist mir extrem schwer gefallen und die Fülle an Erinnerungen und an Situationen, die ich nochmal in so kurzer Zeit verarbeiten muss, ist schwierig.”
Mit “schwierig” meine ich eigentlich “unmenschlich”. Und wenn ich mich nicht öffentlich selbst zensieren würde, würde hier noch viel mehr dazu stehen.
Ich sollte glücklich sein, dass ich das Essay fertig habe. Bin ich aber nicht. Es war so schlimm, ich kann darüber nicht glücklich sein.
4 Wochen Hölle
Ich bin ja nicht gläubig. Aber wenn es eine Hölle geben würde, dann werden dort den Menschen nicht physische sondern psychische Schmerzen zugefügt. Das ganze habe ich jetzt 4 Wochen lang durchgelebt.
Ich hatte zuvor schon mit Depressionen zu tun, aber in diesem instabilen Zustand, in der mich das Essay gebracht hat, war ich noch nie.
Mein Bericht über die letzten 4 Wochen:
- Ich musste fast jeden Tag heulen, teilweise über mehrere Stunden am Stück
- Ich hatte Probleme ohne Medikamente schlafen zu können
- Ich hatte oft Albträume
- Ich hatte an 3 Tagen komplett die Lust am Essen verloren
- Ich hatte 3 mal richtig Angstattacken bekommen, die so stark waren, dass ich Lorazepam nehmen musste
- Ich hatte 4 mal Suizidgedanken
- Ich hatte 2 mal das verlangen, mich selbst zu verletzen
- Ich war 2 mal kurz davor, mich freiwillig in eine Klinik einzuweisen
Ich war zuvor in einem relativ guten Zustand. Ja, ich hatte meine Höhen und Tiefen. Aber ich war über viele Monate hinweg stabil. Suizidgedanken hatte ich zu letzt kurz nach meinem Outing. Zum Glück habe ich einen sehr starken Überlebensinstinkt und schalte komplett ab, anstatt etwas dummes zu tun.
Ich hatte zuvor nie im Leben das Bedürfnis, mich selber zu verletzen. Bis jetzt. Ich habe es nicht gemacht, da sich mein Bewusstsein vorher eingeschaltet hat. Aber das Verlangen war groß.
Wie kann man etwas von mir verlangen, was mich in ein tieferes Loch stürzt als ich jemals war?
Vor meinem Outing vor mir selber hatte ich große Angst, dass mir sowas wie das hier passieren würde. Nun ist es so passiert.
Ich brauche momentan viel Unterstüztung. Ich versuche mein Leben weiterhin zu stemmen. Es muss ja irgendwie weiter gehen.
An dieser Stelle nochmal vielen Dank an meine Freundin Sylvie und alle anderen, mit denen ich teilweise fast täglich geredet habe. Danke für die Geduld.
Ich werde leben. Die Art, wie man hier Transfrauen “behandelt”, hat mich krank gemacht. So krank, dass es eine lange Zeit dauern wird, bis ich mich davon wieder erhole.